Kinder mit depressiven Eltern
Seitdem Maria denken kann, hing über ihrer Familie immer eine dunkle Wolke. Manchmal war die Wolke so dunkel und die Stimmung so bedrückt, dass gerade sie als Kind das Gefühl hatte, alles falsch gemacht zu haben. Es gab Tage, da war ihre Mama viel im Bett, aber trotzdem hatte sie es immer geschafft, Maria ein Pausenbrot zu schmieren und sie fertig zu machen.
Die Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern bekam sie als Kind trotz allem regelmäßig mit. Der Vater, der nie anwesend und die Mutter, die depressiv war. Die Sucht zum Alkohol war sehr groß und leider hatte das meist negative Folgen, die Vernunft hatte keine Chance: Marias Mama wurde redselig und ihr Papa aggressiv. Irgendwann erzählte ihre Mama ihr wie unglücklich sie sei und dass sie sich nicht aus der Ehe retten konnte wegen Maria. Also lastete die Schuld auf Marias Schultern.
War sie schuld an dem unglücklichen Leben, das ihre Eltern führten? Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Wäre das Problem ohne sie vielleicht gar nicht da? Fragen über Fragen und keiner konnte Maria diese beantworten. Denn sie wollte nicht, dass irgendjemand von ihrem Problem erfuhr. Denn das Bild der heilen Familie sollte ja bestehen bleiben, zumindest für die Außenwelt.
Irgendwann erzählte Marias Mutter ihr, dass sie nicht mehr leben wolle, sie wolle sich umbringen. Oh Gott, ist es das was ein Kind hören will von seiner Mama? Von dem Vorbild, was sie eigentlich darstellen sollte? Und immer wieder diese Frage, die in Marias Kopf rumgeistert: „Wäre es nicht eigentlich besser, wenn ich nicht mehr da wäre?“ Maria war schließlich groß genug um dies alles mitzubekommen. Die Last auf ihren Schultern wurde immer größer und die Sorge wuchs. Je größer sie wurde, umso mehr begriff Maria. Sie verstand, dass nicht sie diejenige war, die sich Vorwürfe machen musste – nein, sondern ihre Eltern.
Sie fing an mit ihrer Mama zu reden, sagte ihr, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie machte ihrer Mutter verständlich, dass sie so auch total unglücklich war. Wenn ihre Mutter noch einmal zu ihr sagen sollte, dass sie sich umbringen wolle, würde Maria ihr antworten: „Na, dann mach es doch“. Natürlich meinte sie das nicht so, sie liebte ihre Mama über alles. Aber Maria hatte die Hoffnung, dass sie ihrer Mutter die Augen öffnen und ihr damit zeigen konnte, dass sie dringend Hilfe brauchte.
Trotz allem war Marias Mutter für sie in den schwierigsten Situationen immer da, sie half ihr wo sie nur konnte, sie brachte ihr alles bei, was ein Kind wissen und können musste. Aber diese dunkle Wolke herrschte weiterhin über ihrer Familie. Maria versuchte ihre Mutter zu unterstützen. Sie nahm sie bei der Hand und sagte ihr, dass sie als Familie das gemeinsam schaffen könnten. Diese Situation war das Schlüsselerlebnis, daraufhin ging Marias Mutter zu einer Neurologin/Psychiaterin. Dort fing ihre Mutter endlich an zu reden und bekam ein Antidepressivum, welches sie regelmäßig einnehmen sollte. Damit wurde die Gesamtsituation besser – ihre Mutter lachte mehr und lag nicht mehr nur in ihrem Bett. Auch die Beziehung zwischen ihren Eltern bekam neuen Wind. Ihre Eltern küssten sich beim „Guten Tag“-Sagen und beim Verabschieden, hielten sogar unterwegs wieder Händchen. Maria freute sich sehr darüber und bekam auch wieder neuen Mut, selbst irgendwann eine Familie zu gründen. Wenn Kinder mit depressiven Eltern groß werden, dann muss allen klar sein, dass die Betroffenen aber auch die Kinder Hilfe brauchen. Denn besonders die Kinder sind es, die im Stillen darunter leiden. Sie bekommen mehr mit als wir Erwachsenen ahnen.
Die Autorin des Artikels arbeitet in einer kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Praxis.